Über Schwedens Westküste strahlt die Sonne von einem makellos blauen Himmel. Die Menschen gehen spazieren und tanken dankbar das Sonnenlicht nach dem düsteren und regenreichen Winter. Cafés und Restaurants haben geöffnet, ebenso Kindergärten, Schulen bis zur neunten Klasse, Museen und die meisten öffentlichen Einrichtungen. In den Skigebieten laufen die Lifte und die Hotels haben nach wie vor geöffnet. Es ist, als würde es Corona nicht geben. Doch natürlich gibt es das Virus auch hier. Und es verbreitet sich. Wie hoch die Zahl der Infizierten tatsächlich ist, lässt sich allerdings nicht sagen, denn Schweden testet nur noch Krankenhaus-Personal oder Risiko-Patienten, die unter Symptomen leiden. Bis zu diesem Wochenende gab es 20 Tote. Die Devise der Regierung: lagom! Maßvolles Handeln. Und das heisst, daß es ausser Appellen an die Bevölkerung so gut wie keine Einschränkungen gibt. Es ist so, als würde man einem schweren Verkehrsunfall in Zeitlupe zuschauen. Man weiß, daß etwas schlimmes passieren wird, aber kann nichts tun. Mir kommen die Dystopien aus meiner Schulzeit in den Sinn. Nevil Shutes Roman "On the Beach", in dem nur Australien von einem Atomkrieg verschont geblieben ist und nun voll banger Ungewissheit auf die atomar verseuchten Wolken aus der nördlichen Hemisphäre wartet.
"Herdenimmunität" - zu welchem Preis?
Ich bin mir sicher, es ist nur eine Frage der Zeit, bis Schwedens Regierung die eigene unausgegorene Strategie um die Ohren fliegt. "Herdenimmunität" wie sie auch Großbritannien bis zur vergangenen Woche verfolgte (oder die Niederlande) ist das Ziel. Das heißt, die jungen und gesunden Menschen sollen sich ruhig anstecken und immun gegen das Virus werden, die alten und die Risiko-Gruppen sollen sich doch bitte schön am besten selbst isolieren und zu Hause bleiben. Daß sie es auch wirklich tun, dafür gibt es freilich keine weiteren Handlungsanweisungen. Schon jetzt sind Stockholms Intensivstationen voll und es gibt gerade mal 22 000 Krankenhausbetten im ganzen Land! Leicht auszumalen, daß das Virus hier ähnliche Verheerungen anrichten kann wie in Italien. Heute Abend hat Ministerpräsident Lövfen eine Ansprache an das Volk gehalten. Sie enthielt im Wesentlichen nichts Neues. Löfven scheut sich nach wie vor, die Persönlichkeitsrechte der Menschen weiter einzuschränken. Stattdessen appellierte er erneut an die Eigenverantwortung der Bürger, warnte sie jedoch davor, daß es mögliche weitere Maßnahmen geben könnte.
Auch morgen soll es wieder sehr schön und sonnig werden in Schweden...
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Janine (Sonntag, 12 April 2020 10:24)
Sehr spannend zu lesen, wie unterschiedlich Menschen und Länder damit umgehen... verstehe deine Sorge, gerade mit Blick auf die Entwicklungen in anderen Staaten, und hoffe, dass sie sich einfach nicht bewahrheitet. Und dass deine Schwedengeschichten bald auch wieder einfach schöne Reisetipps zum Nachmachen sind! � Bleibt gesund!!
Simone Franzke (Mittwoch, 13 Mai 2020 20:09)
Liebe Janine! Vielen Dank und sorry für die späte Rückmeldung. Irgendwie klappt das mit den Benachrichtigungen noch nicht.
Rainer Lutz (Samstag, 23 Mai 2020 16:53)
Hallo Simone,
Sie schreiben, dass Lagom als Handlungsmaxime dazu führte, dass in Schweden so wenige Einschränkungen zur Eindämmung con Corana erlassen wurden. Ist das aus Ihrer Sicht ein gesellschaftlicher Konsens, also eine Art Selbstverständlichkeit? Wie verträgt sich eine protestantische Verantwortungs-Ethik, die ja auch in Lagom steckt, mit der Versorgung alter Menschen in Heimen, die zu Corona-Zeiten wohl bitter schlecht ist - wenn ich Pressemitteilung in diesem Punkt vertrauen kann? Wäre ein Lock-Down wegen Lagom in Schweden nicht durchsetzbar? Werden solche Punkte in der Öffentlichkeit diskutiert? Mich würde Ihre Einschätzung sehr interessieren.
Herzliche Grüße
Rainer Lutz