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Das große Unbehagen

Ich kann mir lebhaft vorstellen, daß der ein oder andere so etwas wie Schadenfreude empfindet, wenn er liest, hört oder sieht. daß die Schweden in weiten Teilen Europas gerade keine gern gesehenen Gäste sind. Nach dem Motto: "Das habt ihr nun von Eurer laschen Corona-Krisen-Politik". Dieselbe Corona-Krisen-Poltik, die sich derselbe ein oder andere noch ein paar Wochen zuvor gewünscht hätte, als er daheim im Lock Down hocken musste. Jetzt freilich  - mit einer immer noch erschreckend hohen Zahl an Todesfällen und einer nicht im geringsten nachvollziehbaren Menge an Corona-Infektionen - ist Schweden der Buh-Mann Europas. Norwegen, Dänemark und auch Finland halten Distanz zu ihrem Nachbarn. Für Schweden gilt "wir müssen leider draußen bleiben", während die übrigen skandinavischen Länder die Grenzen füreinander wieder öffnen. Da hilft es auch wenig, wenn Staatsepidemiologe Anders Tegnell einräumt, daß man Fehler gemacht habe in der schwedischen Corona-Strategie.

Ich kann sogar verstehen, daß in vielen Ländern ein großes Unbehagen über diese Strategie und ihre Folgen herrscht. Während fast überall anderswo die Neuinfektions- und Todeszahlen sinken oder zumindest stagnieren, bleiben sie hier weiterhin hoch. Während fast überall anderswo schrittweise wieder in Richtung Alltag zurückgegangen wird, verharrt Schweden in seiner Pseudo-Normalität. Doch mit dem Wissen im Hinterkopf, daß jetzt auch hier an der Westküste, besonders in und um Göteborg, die Zahl der Corona-Erkrankungen stark gestiegen ist, mag ich nicht in ein Café oder Restaurant gehen, geschweige denn einen Einkaufsbummel machen. Die beiden Male, an denen ich es dennoch tat, waren vollkommen unentspannt: Ich wunderte mich über das sorglos-dichte Gedränge am Eingang des Restaurants, über die zu eng gestellten Tische und die fehlende Hygiene-Maßnahmen beim Service-Personal.

 

Wischi-Waschi-Empfehlungen und zu späte Maßnahmen

Doch es gibt sie natürlich auch hier, die Zeichen, daß die Zeiten eben nicht normal sind, daß das Virus existiert. Die Plexiglas-Scheiben an Supermarkt-Kassen, die Abstands-Markierungen in Geschäften und öffentlichen Gebäuden. ÖPNV-Mitarbeiter, die einen freundlich darauf hinweisen, daß man am Gleis oder am Bussteig bitte weit genug entfernt von anderen Mitreisenden stehen soll. Neulich bekam ich eine Email von Västtrafik, den hiesigen Verkehrsbetrieben, in der ich gefragt wurde: "Ist Deine Reise wirklich notwendig?" Nicht ich persönlich wurde gefragt, sondern alle potentiellen Västtrafik-Kunden. Die Frage zielte darauf ab, ob man vielleicht doch zu Fuss gehen oder mit dem Rad fahren könne, anstatt mit Bus und Bahn. Die Kampagne machte mich furchtbar wütend, denn sie kam Wochen zu spät. Nach Wochen, in denen hier fast schon krampfhaft versucht wurde, eine Normalität auf Basis von Eigenverantwortung aufrecht zu erhalten. Was bis heute so lala funktioniert. Jeder macht so wie er meint. Mitte Mai verkündete die Regierung, daß man sich jetzt in einem zwei Stunden-Radius um seinen Wohnort bewegen könne - als Empfehlung versteht sich. Daraufhin entspann sich eine muntere Diskussion mit unseren Freunden darüber, ob das jetzt eine Lockerung oder Verschärfung der Reisefreiheiten im Land sei. Denn die meisten hatten offenbar völlig vergessen, daß bis dato die Empfehlung galt, am besten überhaupt nicht durchs Land zu reisen - wir inklusive. Doch niemand hatte uns bei unseren Ausflügen je kontrolliert.

 

Sommerliche Stadtflucht

Ab dem 13. Juni ist diese Beschränkung - also die empfohlene Beschränkung - nun aufgehoben. Damit dürfen die Schweden ganz ohne schlechtes Gewissen hinaus zu ihren Sommerhäusern fahren. Das ist auch ein Glück, denn beim Versuch das Land in Richtung Süden zu verlassen, könnten sie schon an der dänischen Grenze scheitern. Touristen (aus der EU) sind und waren die ganze Zeit übrigens herzlich willkommen hier. Sie mussten sich an keinerlei "Empfehlungen" halten. Verständlich, daß die Regierung auf diese Weise die von der Krise besonders gebeutelte Tourismus-Branche unterstützen will, wirklich stringent und logisch ist diese Strategie allerdings nicht. Staatsepidemiologe Tegnell sagt, er glaube nicht, daß einreisende Touristen das Corona-Virus weiter in Schweden verbreiten würden, nimmt aber offenbar in Kauf, daß sie COVID-19 als Souvenir wieder mit nach Hause nehmen. 

Das mag vielleicht verbittert und böse klingen, aber ich kann diesen "es wird schon alles gut gehen"-Optimismus vieler Schweden nicht mehr teilen. Dafür sind schon zu viele Menschen an den Folgen der Virus-Erkrankung gestorben. 

Gerade werden an den Gymnasien die Abiturzeugnisse vergeben. Danach versammeln sich die Jahrgänge in der Stadt und ziehen feiernd den Avenyn hinunter. Das ist in diesem Jahr natürlich verboten. Gefeiert wird trotzdem, an anderer Stelle. Unsere Nachbarn, die uns zu einem kleinen Umtrunk eingeladen hatten, zuckten nur mit den Schultern, als ihre Tochter abends mit ihren Freunden Richtung Stadt aufbrach. Corona? Was war das noch mal?

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